Julienne Franke:  Motiv und malerische Technik im Werk von Wiking Bohns

 

Die Bezeichnung Ölgemälde erinnert heutzutage eher an Werke der Alten Meister. Seit dem 16. Jahrhundert bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Malen mit Ölfarben die zentrale Technik für repräsentative Bilder. Die Gemäldegalerien geben noch heute ein lebendiges Beispiel davon, welche Möglichkeiten in der Ölmalerei liegen – von der Feinmalerei der Niederländer bis zum Sfumato in der Landschaftsdarstellung, von der Alla-Prima-Malerei der Expressionisten bis zur Farbfeldmalerei eines Marc Rothko.

Die Ölmalerei, deren Beherrschung und Anwendung ein für heutige Lebensbedingungen langwieriger Prozess ist, hat Konkurrenz bekommen durch neues Farbmaterial wie die Acrylfarbe und moderne Techniken der Bilderzeugung im fotografischen und digitalen Bereich. Dennoch entscheiden sich Künstler des 21. Jahrhunderts nach wie vor in der Technik der Ölmalerei zu arbeiten, so auch der 1964 geborene Wiking Bohns. Dies hängt mit den Motiven und der Wirkung zusammen, die der Künstler mit seinen Werken erzeugen möchte.

Das Gemälde mit dem Titel „Bar“ von 2004 zeigt die Bedeutung der Ölfarbe im Werk von Wiking Bohns exemplarisch. Zunächst fallen die gleissenden Flächen in rötlichen Farbtönen auf, die sofort als glatt und spiegelnd wahrgenommen werden. Das Hervorheben der Lichtsituation in der nächtlichen Bar wird an der Kerze in einer Glashülle deutlich, die auf dem Bartresen steht und sich in dessen Oberfläche spiegelt. Sie scheint aus dem Bild herauszuleuchten. Die Leinwand wird hier zur transparenten Fläche, eine Wirkung, die aufgrund der ölhaltigen Farbsubstanz verstärkt wird. Im Kontrast dazu stehen die tief schwarzen, klar begrenzten Flächen, die verschattete Partien der dargestellten Räumlichkeit kennzeichnen. Die Eigenschaften der Ölfarbe einerseits durch mehrfachen dünnen Farbauftrag Transparenz und andererseits mittels deckendem Auftrag undurchsichtige Flächen zu erzeugen, unterstützt die kontrastreiche Gestaltung einer nächtlichen Bar mit künstlicher Beleuchtung.

Das Zusammentreffen von schwarzen, nächtliche Dunkelheit darstellende Flächen und hell erleuchteten Gegenständen ist mehrfach in den Werken von Wiking Bohns anzutreffen, so im Gemälde „Nachtbaum“ von 2008. Der dort zu sehende Laubbaum wirkt, als leuchte er. Ein faszinierender Effekt, der zunächst völlig unrealistisch wirkt und der Phantasie des Künstlers entsprungen zu sein scheint. Bei genauer Betrachtung des Bildes sieht man jedoch im Bodenbereich Lichtpunkte: Sie geben Bodenfluter wieder, die es wirklich am Potsdamer Platz in Berlin gibt. Sie beleuchten die dort stehenden Bäume in der auf dem Gemälde gezeigten Weise.

Gerade diese Unsicherheit zwischen realen und fiktiven Bildvorstellungen zu unterscheiden, gehört zu den zentralen Fragen, der Wiking Bohns in seinen Bildern nachgeht. Seine Motive entstammen ausschließlich dem großstädtischen Bereich, wo Architektur, künstliche Beleutung, Reklame und Bewegung aufeinandertreffen. 

Menschen bewegen sich in der Stadt zu Fuß, mit Bussen, der S-Bahn oder U-Bahn, ein Motiv, das der Künstler im Aquarell mit dem Titel „Nachtfahrt“ von 2008 aufnimmt. Eine Trasse der Bewegung wird in dem Gemälde einer Hochstraße mit dem Titel „Canal de la Chine“ (2003/2004) als imposantes Bauwerk vor rotviolettem Himmel thematisiert. In solchen Bildern zeigt sich auch die Auseinandersetzung mit nordamerikanischen Großstädten im Werk von Wiking Bohns, die er bei verschiedenen Arbeitsaufenthalten vor allem in Kanada kennenlernen konnte.

Letztlich interessieren den Künstler aber nicht die Symbole der Bewegung, wie sie im 19. Jahrhundert zum Beispiel von William Turner in seinem berühmten Gemälde „Regen, Dampf und Geschwindigkeit“ (1844) erstmals bearbeitet wurden, auch nicht die Bewegung selbst wie sie die Futuristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellten, in dem sie die Bildgegenstände in einzelne Flächen oder Sequenzen zersplitterten. Es sind die Bilder selbst, die bei Wiking Bohns in Bewegung zu geraten scheinen. Die Motive wirken wie verformt und flüssig und machen dadurch zeitliche Veränderungen sichtbar. Im Ansatz findet man dies bereits beim Gemälde „Baumhaus“ von 2007, dem man auf den ersten Blick das Großstadt-Motiv nicht ansieht. Aber die Spuren von Leuchtreklame hängen noch im grünlichen Nachthimmel, einzelne Buchstaben sowie das Wort Platz lassen sich entziffern. Die dazugehörenden Gebäude sind jedoch bereits verschwunden oder vielleicht noch garnicht gebaut. Das Raster auf dem Boden könnte eine Hinweis auf das Millimeterpapier von Neubauplänen, eine Markierung von Bauplätzen und Straßen sein oder auf Schienensträngen hinweisen. Jedenfalls ist bereits Bewegung in die provisorische Hauskonstuktion und den Untergrund gekommen, der flüssig und instabil wirkt. Eine zeitliche Dimension von Veränderung wird sichtbar gemacht, ohne bewegte Bilder zu benutzen.

Städtebauliche Veränderungen wie sie in Berlin nach dem Mauerfall durch die Neubebauung riesiger Brachflächen entstanden sind oder wie sie in katastrophischer Form durch den Terroranschlag auf die Twin Towers in New York erfolgten, bilden eine Art realer Folie extremer Veränderungen im Stadtraum. Doch dies ist nur eine Seite im Werk von Wiking Bohns, die andere betrifft die Veränderungen unserer Vorstellungswelt durch den ständigen Strom der virtuellen Bilder, die unser Bewußtsein von Wirklichkeit beeinflussen. Die meisten Menschen, die heute im Bus, der U-Bahn oder selbst zu Fuß unterwegs sind, widmen ihre Aufmerksamkeit nur noch partiell der unmittelbaren Umgebung. Viel stärker sind sie mit der virtuellen Bildwelt beschäftigt, die sie über ihr Smartphone oder den Computerbildschirm vor Augen haben. Fällt ihr Blick kurz zwischendurch auf die Umgebung, was nehmen sie überhaupt wahr? Sehen sie Ihre Umgebung noch als festgefügtes Umfeld oder verschwimmt es nicht längst im Strom der Bilder zu einer nicht mehr klar abgegrenzten Wirklichkeitsform?

Die Bilder von Wiking Bohns stellen genau diese Fragen, nach der Vermischung von Wahrnehmungsebenen an der Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität. Bei dem Bild „Liquid Room (Nr. 3)“ von 2004 ist es eine Art fleckige Struktur, die dieses Verschwimmen der Ebenen ankündigt. Während die Bildränder schon an Kontur verlieren und die Farben in größeren Flächen zusammenfließen, sind einzelne Elemente wie die Autos oder die Straßenbeleuchtung noch zu erkennen. Die Bilder von Wiking Bohns mögen auf den ersten Blick unrealistisch oder wirklichkeitsfremd wirken. Sie sind aber weniger Phantasiegebilde als Reflektion unserer heutigen Wahrnehmungsstrukturen und damit unserer heutigen Realität ein Stück näher als genaue Abbildungen der Umwelt.

Das diese zeitgenössische Wahrnehmungsstruktur nun in einer altmeisterlichen Technik umgesetzt wird, macht deutlich, dass die Ölmalerei als Vorratsspeicher des Menschheitsgedächnisses noch lange nicht obsolet geworden ist. Kein anderes Medium gibt die innere Bilderwelt und die Verschränkung von verschiedenen Symbolebenen auf so vielfältige und beständige Weise wieder. Ein Blick in die entsprechenden Abteilungen der Museen und der Ausstellungsräume zeitgenössischer Galerien zeigt wie sich die Kraft und Wirkung des Ölgemäldes seit Jahrhunderten stets neu entfaltet und die Betrachter zu fesseln vermag.

 

(Julienne Franke, Städtische Galerie Lehrte, 2012) 

English Version: Julienne Franke - Motif and Painting Technique in the Work of Wiking Bohns

 

Nowadays, the term oil painting is more reminiscent of works by the old masters. From the 16th century to the beginning of the 20th century, painting with oil paints was the central technique for representative pictures. The picture galleries still give a lively example of the possibilities in oil painting - from the fine painting of the Dutch to the Sfumato in landscape representation, from the alla-prima painting of the Expressionists to the colour field painting by Marc Rothko.

Oil painting, the mastery and application of which is a lengthy process for today's living conditions, has faced competition from new colour materials such as acrylic paint and modern imaging techniques in photography and digital technolgies. Nevertheless, artists of the 21st century still choose to use the technique of oil painting, such as Wiking Bohns, who was born in 1964. This is related to the motifs and the effect that the artist wants to create with his works.

The painting with the title “Bar” from 2004 shows the importance of oil paint in   Wiking Bohns‘ work. First of all, the glistening surfaces in reddish tones are noticeable, which are immediately perceived as smooth and reflective. The focus on the light situation in the night bar clearly becomes obvious by the candle in a glass cover that stands on the bar counter and is reflected in its surface. It seems to shine out of the picture. Here the canvas becomes a transparent surface, an effect that is intensified by the oily colour substance. This effect is contrasted by the deep black, clearly defined areas that mark the shaded areas of the space shown. The characteristics of oil paint to create transparency by applying thin layers of paint, on the one hand, and to create non-transparent surfaces by means of an opaque application, on the other hand, supports the high-contrast design of a night bar with artificial lighting.

The conjunction of black surfaces representing nocturnal darkness and brightly light objects can be found several times in Wiking Bohns‘ works, for example in the painting “Night Tree” from 2008. The birch tree seen there appears to be glowing. A fascinating effect that initially seems completely unrealistic and seems to have sprung from the artist's imagination. On closer inspection of the picture, however, you can see points of light in the floor area: They depict floor flashlights that really exist on Potsdamer Platz in Berlin. They illuminate the trees there as shown in the painting.

 

Distinguishing this uncertainty between real and fictional images is one of the central questions that Wiking Bohns pursues in his pictures. His motifs come exclusively from the metropolitan area, where architecture, artificial lighting, advertising and movement coexist.

People move around the city on foot, by bus, by city train or by underground, a motif that the artist takes up in a watercolor with the title “Nachtfahrt” from 2008. A route of movement is the subject-matter in the painting of a flyover with the title “Canal de la Chine” (2003/2004) showing an imposing structure against a red-violet sky. Such images also show the reflection on major North American cities in the work of Wiking Bohns, which he got to know during various work stays, especially in Canada.

Ultimately, however, the artist is not interested in the symbols of movement, as they were first dealt with in the 19th century by William Turner in his famous painting “Rain, Steam and Speed” (1844), nor in movement itself as it was used by the futurists at the beginning of the 20th century by splitting the objects in the picture into individual surfaces or sequences. The images themselves seem to be in motion in Wiking Bohns‘s works. The motifs appear deformed and fluid and, thus, make changes over time visible. This can already be found in the approach of the painting “Tree House” from 2007, which at first glance does not show the big city motif. But the traces of neon signs still hang in the greenish night sky, individual letters and the word space can be deciphered. However, the associated buildings have already disappeared or perhaps have not yet been built. The grid on the floor could be a reference to the graph paper of new building plans, a marking of building sites and roads or point to railway lines. In any case, there has already been movement in the temporary house construction and the subsurface, which appears fluid and unstable. A temporal dimension of change is made visible without using moving images.

 

Urban development changes, such as those that occurred in Berlin after the fall of the Berlin Wall through the rebuilding of huge wastelands, or those that occurred in a catastrophic form through the terrorist attack on the Twin Towers in New York, form a kind of real foil of extreme changes in urban space. But this is only one side of the works of Wiking Bohns, the other deals with the changes in our world of imagination through the constant flow of virtual images that influence our awareness of reality. Most people who travel by bus, by underground or even on foot today only pay partial attention to the immediate surroundings. They are much more preoccupied with the virtual world of images that they have in front of their eyes on their smartphones or computer screens. If you glance briefly at the surroundings, what do you actually notice? Do you still see your surroundings as a firmly established environment or has it long since been blurred in the stream of images to a form of reality that is no longer clearly defined?

The pictures by Wiking Bohns ask exactly these questions, they ask about the mixing of levels of perception at the interface between reality and virtuality. In the picture “Liquid Room (No. 3)” from 2004, it is a kind of spotty structure that heralds this blurring of the levels. While the edges of the picture are already losing their contour and the colours merge in larger areas, individual elements such as the cars or the street lighting can still be recognized. Wiking Bohns' pictures may seem unrealistic at first glance, but they are less about a fantasy than a reflection of our present-day perceptual structures and, thus, a little closer to our present-day reality than precise images of the environment.

The fact that this contemporary structure of perception is now being transformed in a technique similar to that of the old masters makes it clear, that oil painting as a repository of human memory has by no means become obsolete. No other medium reproduces the inner world of images and the entanglement of different levels of symbols in such a diverse and constant way. (A look into the relevant departments of the museums and the exhibition rooms of contemporary galleries shows how the power and effect of oil painting has been developing anew for centuries and how it is able to captivate the viewer.)

 

(Julienne Franke, City-Gallery Lehrte, 2012)